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1# Publikation




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Autor|innen

Simon Fröhling, Dragica Rajcic, Barbara Schuler, Matthias Amann, Sarah Bernauer, Patric Marino, Gianna Molinari,
Bettina Gugger, Jan Bachmann, Eva Seck, Bettina Wohlfender, Philippe Kottoros, Andreas Heusser,




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1# Deckblatt






Raphael Bottazzini , Titel: Picknick, Technik: Fotografie, Mass: 85 X 110cm



Begleittext
Die grossformatige Photographie Picknick von Raphael Bottazzini (*1979, Basel) gibt ein künstlich anmutendes, weisses Bärenfell wieder, in dem asiatische Stäbchen und Plättchen versinken. Als synthetisch voluminös-haptische Variation des grünen Rasens erscheint die Materialität des Fells. Die Titelgebung Picknick verweist auf ein kulturelles Phänomen, dessen zeitlicher Wandel für den kulturanthropologischen Blick des Künstlers von Interesse ist. Entsprechend seiner französischen Wortherkunft bedeutet Picknick "gemeinsame Mahlzeit im Grünen, Verzehr mitgebrachter Speisen im Freien bei einem Ausflug" . Das wohl berühmt-berüchtigste Gemälde dieser Thematik - Le Déjeuner sur l'herbe von 1863 des französischen Malers Édouard Manet - trägt als Bild im Bild in seiner unteren linken Ecke ein Stillleben: die Reste des in freier Natur eingenommenen Frühstücks. Bottazzini fokussiert in seiner Photographie auf die Darstellung regloser Dinge oder Gegenstände. Als zeitgenössisch repräsentative Modifikation scheint in Picknick, 2009 als Stillebenartige Verdichtung eine seit jeher für diese Gattungsform thematische Exklusivität der Güter auf, wie verweisen diese vom "Photographen des zeitgenössischen Lebens" wiedergegeben Objekte auf die sie bedingende Möglichkeiten eines globalisierten Alltags.
Bottazzini arbeitet mit der digitalen Photographie, zollt jedoch mit dem Verzicht auf Nachbearbeitung dem ursprünglichen Prinzip der Entstehung eines photographischen Bildes Respekt. Mit einer vorab sorgfältig arrangierten und inszenierten Szene führt er in die optisch-digitale Mechanisierung und Automatisierung der Bildaufzeichnung - als "pencil of nature" (William Henry Fox Talbot) einst im Sinne eines natürlichen Effekts des Lichtes auf Materie verstanden - ein subjektives Moment ein. Die indexikalische Potentialität der Photographie gerät darüber in labile Schieflage; das photographische Bild zeigt sich als ein in mannigfaltigem Wechselverhältnis stehender Bezug von Realen und naturalistischer Repräsentationen der (menschlichen) Natur mit codierten und bewusst auf Lesbarkeit ausgerichteten Verhaltensweisen. Das der Photographie zukommende Phänomen einer Pendelbewegung zwischen "zauberhaft unverständlich", gar "natürlich" und "(vom Menschen) künstlich hergestellt" findet sich als Spannung auf der Ebene der aufgezeichneten, sichtbaren Objekte wieder, wobei beide als Chiffren eines gesellschaftlichen Prozesses des Bezeichnens und Bedeutens offengelegt werden.
Nicht das Objekt des pseudo-asiatischen Gedecks, nicht die Idee von Spuren einer zeitgenössischen Lebensart, nicht das "Picknick" als Begriff wirken als solche, sondern bilden in Wechselwirkung "Botschaften" oder ein "Mitteilungssystem", deren spezifische Form an den Begriff des "Mythos" erinnert. Als "sekundäres semiologisches System" ist ihm ein dreidimensionales Schema eigen, das aus einem Bedeutenden, einem Bedeuteten und einem Zeichen besteht, jedoch seine materielle oder quasi-materielle, leere Form des Bedeutenden zugleich ein Sinn erfülltes Zeichen einer ersten semiologischen Kette darstellt. Bottazzinis Photographie redupliziert dergestalt nicht referentiell das willkürlich bedeutende, überzeitliche Phänomen des Picknicks, sondern lässt neben dem Anschluss an diesen abwesenden, mit Sinn erfüllten Endterminus eine leere aber gegenwärtige Form erscheinen. Diese spricht von einer - gar als Sterilität empfindbaren - Unberührtheit des abgebildeten Gedecks, das ein mit einem Picknick einhergehende neue, als Freiheit verstehbare, Erweiterung der (Ess)Waren, wie drohende Unterordnung unter von menschlichen (Gebrauchs)Spuren gereinigte, nur als geschichtslose Gesten erscheinende Güter eines globalisierten Kapitalismus.

Mit dem Projekt "Titan", dessen Titelcover der ersten Ausgabe das photographische Bild ausstatten wird, kann Letzteres als Repräsentant eines Paradigmas in Zusammenhang gebracht werden. Die Aufnahme von kulturell geprägten Normen (der Ästhetik) als narrative Strategie lässt das photographische Bild weder als ideologisch korrekte Perspektive auf den Begriff Picknick, noch im Sinne eines semiologisch definierten Wertes des Begriffs Picknick verstehen. Eher vermag es eine der eigentlichen Sprache zukommende, stets neu interpretierbare, virtuelle Sinndichte aufzunehmen und jene mit einem dichterischen Anspruch nach einer essentiellen, auf den Sinn der Dinge (und nicht semiologisch auf die Worte) ausgerichtete Suche von Bedeutung zu kombinieren. Picknick, 2009 befördert imaginär Gesehenes in scheinbare Wahrheit, Wissen oder Erkenntnis und überführt als (technische wie medienspezifische) Konstruktion sich selbst seines imaginären Status. Dies mag man, wenn auch im visuellen Register mediatisiert, strukturell analog dem Diktum von Roland Barthes verstehen: "Die Sprache des Schriftstellers hat nicht zur Aufgabe, das Reale darzustellen, sondern es zu bedeuten."

Andrea Giger, Juli 2011
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1Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Hrsg. v. Günther Drosdowski. Mannheim: Bibliographisches Institut, 1989; Zürich [etc.] (Der Duden in 12 Bänden; Bd. 7, Ed. 2), S. 530.
2Vgl. dazu Barthes, Roland, Mythen des Alltags [Mythologies, 1957]. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 200926, S. 92f, 103.
3Ibid., S. 123.