titan.vc 
zurück 
In Buenos Aires

BA

Nun bin ich also angekommen, in Buenos Aires, BA, wie die Einheimischen sagen. Strassen, Cafés und ganze Viertel hier tragen die Namen ferner Ziele: Costa Rica, Palermo, Montenegro, Thames.


Herzschlag

Buenos Aires ist laut. Nicht in einem absoluten, sondern einem totalen Sinne: Es gibt kein Entkommen. Die Stadt ist nach dem Schachbrettprinzip angelegt, topfeben, endlos dehnt sie sich ins Ungewisse. Der Verkehr wird alternierend im Einbahnsystem geführt, lauter mehrspurige Strassen, ein engmaschiges Netz, durch das Tag und Nacht ein Strom wütender Fahrzeuge pulsiert, ohne Unterlass, irgendwo von einem gigantischen Herz durch die Häuserschluchten gepumpt.


Baron auf den Bäumen

Meine Wohnung liegt hoch oben zwischen schlanken Platanen. Vor meinem Fenster schwanken die vielfach verzweigten Stämme im Wind, jeder in seinem eigenen Rhythmus, keinerlei Fixpunkt für das Auge. Beinahe wird mir schlecht, zugleich fühle ich mich ein wenig wie Calvinos Baron auf den Bäumen.


Subte

Ein Junge sitzt neben seiner Mutter in der Subterráneo und zieht geräuschvoll die Nase hoch. Das darf er nicht, denn die Mutter kneift ihn in die Nase. Es scheint nicht sonderlich weh zu tun, der Junge schnieft schon wieder, ein schelmisches Lächeln um die Mundwinkel. Die Mutter blickt zum Sohn, erst tadelnd, dann mahnend, es ist unschwer zu erkennen: jetzt gilt es ernst. Umsonst, der freche Bengel rotzt erneut. Der Gesichtsausdruck der Mutter wird hart. Die U-Bahn hält, der Junge zieht die Nase hoch, die Türen schliessen sich, die Mutter packt die Nase des Kleinen und dreht sie mit aller Kraft um.


Mann und Bus

Ein weisser Überlandbus der Luxuskategorie zieht rückwärts aus der Landungsbucht. Ein Mann kommt angerannt, ohne Jacke und Gepäck, eine Fahrkarte in der Hand. Der Bus setzt zurück, der Mann wedelt verzweifelt mit der Fahrkarte in der Luft. Der Bus zögert einen Moment, hält, durch die getönte Windschutzscheibe ist der Chauffeur zu erkennen. Ein Augenblick lang scheint alles möglich, dann fährt der Bus los. Der Mann nimmt die Abkürzung, läuft quer über den Platz zur Strasse, pflanzt sich mitten auf die Fahrbahn. Der Bus bremst ab. In ruckartigen Stössen hält das Ungetüm langsam auf den Mann zu, bis die Schnauze des Fahrzeugs dessen Bauch berührt. Der Mann weicht einen Schritt zurück, legt die ausgestreckte Hand auf die Windschutzscheibe und stemmt sich mit aller Kraft dagegen.


Piratenschiff

Wochenendausflug über den Rio de la Plata nach Montevidéo. Die Stadt macht einen leicht heruntergekommenen, verschlafenen Eindruck, als wären die Uhren in der Erdölkrise stehengeblieben. An der Meerespromenade, die den passenden Namen La Rambla trägt, esse ich ein Chivito aus Grillfleisch, Spiegelei, Salat und allem, was zwischen zwei Brotscheiben Platz hat. Zu meiner Linken versinkt die Sonne im Meer, zu meiner Rechten erstrahlen die Lichter im Lunapark. Das Piratenschiff, das ebenfalls aus einer anderen Zeit zu stammen scheint, schwingt sein Pendel vor und zurück, die Plätze im Boot sind zur Hälfte besetzt, immer höher schlägt das Pendel aus, am höchsten Punkt steht es für einen Moment still, bevor es niedersaust, ein Chor lustvoller Angstschreie ertönt aus Dutzenden halbwüchsigen Mädchenkehlen, schwillt an und wieder ab, im Rhythmus des Pendels, immer am toten Punkt, unterlegt vom Rauschen der Meeresbrandung.


Katzenlobby

Ich sitze in der Hotellobby in Punta del Este, im Blick das aufgewühlte, regengraue Meer. Buenos Aires ist eine Hundestadt. Die Lobby dieses Hotels ein Katzenparadies. Um Stühle streichen sie herum, springen die Glasfenster hoch, verlieren sich ans Spiel mit der eigenen Schwanzspitze, zeigen sich gegenseitig Krallen und Zähne, fordern miauend ihren Anteil an den Tischen der Gäste. Von den Hotelbesitzern, einem alten Ehepaar aus Tanger, werden sie in regelmässigen Abständen vertrieben, um ebenso regelmässig durch die offene Tür auf samtweichen Pfoten in ihrer unvergleichlichen Art zurückgeschlichen zu kommen.


Collectivo

In BA steige ich in eines der zahllosen collectivos und bin sofort Teil eines lebenden Organismus': an jeder Haltestelle werden vorne neue Mitfahrende verschluckt und hinten ein paar alte ausgeschieden, die ganze Reisegesellschaft im randvoll gefüllten Bus der Linie 42 von Belgrano über Almagro Richtung Nueva Pompeya rückt ein Stück nach hinten, doch da die Fahrten der Passagiere unterschiedlich lange dauern und nicht alle Plätze gleich begehrt sind, organisiert sich die Fahrgemeinschaft ständig neu, ein freiwerdender Sitz wird in Beschlag genommen, ein Festhaltegriff gesucht, ein Gewicht austariert, den anzüglichen Blicken eines älteren Herrn der Rücken gekehrt, rechtzeitig vor dem Ausgang Stellung bezogen; und natürlich gilt es Regeln zu beachten und Rangordnungen, der reiferen Dame gebührt der Vortritt, dem Alten am Stock und der Schwangeren der freiwerdende Sitz. Und so bleibt die ständig sich erneuernde Gruppe, die jede Erschütterung der ruppigen Fahrt unbeschadet übersteht, auch im Innern in ständiger Bewegung.


Statistik

Wie hoch ist wohl die Sterberate unter Radfahrern in BA?


Borges

Ein Mann tritt an meinen Tisch und nimmt Haltung an. Seine Brille ist mit Klebeband fixiert, in der Hand hält er einen Stock; er riecht nach Alkohol. Das Spanisch aus seinem zahnlosen Mund ist kaum zu verstehen. No hablo mucho Español, sage ich und versuche, einen Wall sprachlicher Hindernisse um mich aufzuschütten. Der Alte beginnt seine Ausführungen von vorne, Satz für Satz in aufreizender Langsamkeit, so wie man mit einem spricht, der schwer von Begriff ist. Behindert sei er, wiederholt er und hebt den Stock diskret in die Höhe, und dankbar, wenn ich ihn finanziell ein wenig unterstütze. Ich stecke ihm einen Zweipesoschein zu. Er wirft einen Blick auf den Schein und stopft ihn in die Tasche. Woher ich komme, will er wissen, ich sage es ihm, doch es scheint ihn nicht zu interessieren, sondern nur die Eröffnung gewesen zu sein für die eigentliche Frage: ob ich Borges kenne. Ich bejahe, etwas zu vorschnell, wie mir selber scheint, natürlich kenne ich den. Er schaut mich prüfend an. Ob ich ihn gelesen habe, will er wissen. Ich fühle mich ertappt. Noch nicht, räume ich ein. Lies ihn, sagt er, in einem Ton, der keine Widerrede duldet, rammt den Stock in den Boden und tritt ab.


"Salami mey jou"

Die Supermärkte der Stadt sind fest in chinesischer Hand.
Heute gelernt: "Salami mey jou!"
Heisst auf Chinesisch: keine Salami mehr da.
No hay.


Perfecto

Wie ich das Fleisch gerne hätte, will die Kellnerin wissen.
"Jugoso", sage ich. Saftig.
Sie blickt von ihrem Notizblock auf, schaut mir in die Augen.
"Muy jugoso", verbessere ich mich.
Sie lächelt.
Ich lächle zurück.
"Perfecto", sagt sie.


[...]

Matthias Amann