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Um so richtig intim zu werden fehlt uns die Zeit

Heute Morgen habe ich mir noch einmal diesen Film von Fischli und Weiß auf YouTube angeguckt, du erinnerst dich wahrscheinlich; ein Müllsack ist an der Decke aufgehängt und dreht sich langsam um seine eigene Achse. Dabei verliert er kontinuierlich an Höhe, bis er auf dem Niveau eines im Raum stehenden Autoreifens angekommen, diesen sanft anstupst oder anreibt. Der Reifen fährt eine kleine Rampe hinunter und stößt mit Wucht auf einen weiteren Gegenstand, den ich nun bereits wieder vergessen habe. Dieser reagiert um bald eine weitere Reaktion zu provozieren. Zum ersten Mal habe ich den Film im Physikunterricht der zehnten Klasse gesehen, erst heute ist mir jedoch die einfache und wahrscheinlich jedem durchschnittlichen Zuschauer augenscheinliche Tatsache klar geworden, dass oft kleinste Dinge große Dinge anstoßen und große Bewegungen in kleinsten Reaktionen verpuffen. Das hat mich unbedeutenden Kleinbürger dann schon sehr glücklich gemacht, muss ich sagen.

Etwas ganz anderes: Als Sebastian Aurelio an diesem Nachmittag zurückgekommen ist, fühlte sich alles ganz normal an. Am Abend sind wir zwei um die Mauerreste gebummelt. Er erzählte von seinem Haus in der Toscana und den Schwierigkeiten im Kampf gegen die Brennnesseln. Dann kam Martha dazu und wir tranken den üblichen Schnaps im Morch und waren soweit ganz glücklich. Wir tranken dann noch einen Schnaps und machten uns auf den Weg. Aurelio hat irgendwo seine Erzählung eingestellt und die Stille war sehr angenehm um uns. Von den Dünen war ein leichtes Rauschen zu vernehmen und überhaupt war mir, als wäre das der Anfang der großen Sommerferien und auch Martha blickte immer wieder zu mir und schien angetan von der Stimmung um uns herum. Aurelio hat sich an einem Weidebusch einen Zweig abgebrochen und stocherte in den Hundehaufen. Das machte er oft und war nicht ungewöhnlich. Vielleicht tat er es energischer als an anderen Tagen. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall blieb er kurz vor unserer gemeinsamen Wohnung stehen und meinte, dass er nicht weiter käme und jetzt in das Meer gehen würde und für immer da bleiben wolle. Was hätte man darauf entgegnen können? Ich war schon sehr verwundert und Martha hat sich auf den Boden gesetzt und gelacht. Aurelio wartete eine ganze Weile bis er sich umdrehte und wortlos ging. Martha wollte Küssen und ich habe mich zu ihr gesetzt. Später am Nachmittag habe ich die Wäsche aufgehängt und mit jeder Unterhose an Aurelio und sein dramatisches Geschick und mit jeder Socke an Martha gedacht und alles erschien mir in einem diffusen Zusammenhang, so wie nun auch Socken und Unterhosen zusammen an ein und derselben Wäscheleine hingen.

Entschuldige, kannst du diesen letzten Satz noch einmal wiederholen?

"Später am Nachmittag habe ich die Wäsche aufgehängt und mit jeder Unterhose an Aurelio und sein dramatisches Geschick und mit jeder Socke an Martha gedacht und alles erschien mir in einem diffusen Zusammenhang, so wie nun auch Socken und Unterhosen zusammen an ein und derselben Wäscheleine hingen." Was ist damit?

Was soll ich sagen, er scheint mir irgendwie nicht echt.

Nicht echt?

Nein. Ich habe das Gefühl, dass du dich vom Klang hast verleiten lassen, dass du hier einem ganz kitschigen Gefühl gefolgt bist.

Natürlich ist das erst einmal ein schönes Bild.

Die diffus zusammenhängenden Unterhosen und Socken? Jesses Maria!

Nein. Das ist natürlich Quatsch.

Da sind wir uns schon einig?

Natürlich.

Gut

Jan Bachmann