titan.vc 
zurück 
Der Flamingo

Grossmutter und ich stehen hinter der Scheibe. Auf der anderen Seite steht ein Flamingo. Das rechte Bein im Wasser, den Schnabel im Gefieder, die Augen geöffnet. Sein Bein, sagt Grossmutter, sein linkes Bein ist weg. Ich ziehe meinen Schal enger um den Hals. Das Wasser friert langsam zu. Vom Ufer her. Noch zwei Nächte, sagt Grossmutter, und klammert sich an den Rollator. Sie hat Faustbrote, Kerzen und warmen Kaffee mitgebracht. Hinter der Scheibe beginnt es zu schneien. Grossmutter stützt sich auf den Rollator und starrt auf den Flamingo. Ich lehne mich mit dem Rücken an die Scheibe. Der Raum ist leer. Weisser Raum. Raum mit Grossmutter und mir. Die Stühle sind weg. Der Tisch ist weg, die Bilder, die Uhr, das Klavier. Jetzt hat er die Augen zugemacht, sagt Grossmutter. Keine Stühle, kein Tisch, kein Klavier. Was für ein Winter, sagt Grossmutter. Wie spät ist es, frage ich. Nichts. Keine Bilder, keine Uhr. Willst du die Variationen spielen, fragt Grossmutter. Das Klavier ist schon weg. Und du, frage ich. Habe keinen Hunger, sagt Grossmutter. Keinen Durst. Kein Gefühl mehr in den Fingern. Wird er die Farbe verlieren? Nichts. Noch eine Hand Wasser zwischen Eis und Bein, höre ich Grossmutter sagen. Vielleicht bleibt noch weniger Zeit. Grossvater kannte den Text zu den Variationen. Keine Bilder, keine Uhr, kein Klavier. Als der Flamingo kam, war Grossvater bereits weg. Millimeter um Millimeter wächst die Eisschicht. Vom Ufer weg. Nach vorne, nach unten. Die anderen Flamingos sind schon weg. Die Variationen, sagt Grossmutter. Kein Faustbrot, keine Kerzen, kein Kaffee. Hat er die Augen noch immer geschlossen, frage ich. Keine Augen. Kein Bein. Kein Wasser. Man müsste fliegen können, flüstert Grossmutter. Aus dem Stand.

Bettina Wohlfender